Die Tungiasis ist eine vernachlässigte Tropenkrankheit, die im Osten Afrikas epidemische Ausmasse angenommen hat. Das durch Sandflöhe verursachte Fussleiden macht jeden Schritt zu einer Qual. Jedes fünfte Kind in Uganda ist davon betroffen.
Hermann Feldmeier
Es ist früh am Morgen im Dorf Bukteyune im Südosten von Uganda. Der Weiler liegt auf einer Anhöhe nördlich des Victoriasees und wird von zwei lehmigen Strassen durchzogen. Motorradtaxis mit jeweils zwei Passagieren auf dem Rücksitz knattern in die Distrikthauptstadt Jinja. Gelegentlich keucht ein übervoll mit Zuckerrohr beladener Tata-Lastwagen aus den 1960er Jahren über die Dorfstrasse mit Nachschub für die dortige Zuckerfabrik.
In einem Raum von der Grösse eines Doppelbetts hockt Apromena Aga auf einem Schemel und kocht sich eine Maissuppe, seine einzige Mahlzeit für den Tag. Der Fussboden besteht aus festgestampftem Lehm und ist voller Risse und Löcher. Fetzen einer Schaumgummimatratze liegen am Boden. Daneben zerrissene Kleidung, ein Dutzend Maiskolben und eine Handvoll Holzkohle.
Der alte Mann, der sein Alter mit «etwa 70 Jahre» beschreibt und nur mit einer Hose bekleidet ist, blickt müde und resigniert auf seine nackten Füsse. An den Zehen, der Ferse und der Fusssohle sind Dutzende kraterähnliche, schwarz verfärbte Vertiefungen. Dazwischen hat sich die Hornhaut verdickt und wie übereinandergeschobene Eisschollen aufgetürmt. An anderen Stellen schimmert die Unterhaut rosafarben durch. Immer, wenn er einen Fuss aufsetzt, zeichnet ein zuckender Schmerz das Gesicht des alten Mannes.
Behandlung mit Altöl
Während die Maissuppe in einem Aluminiumtopf köchelt, greift Aga zu einem Plastic-Kanister, der gebrauchtes Motoröl enthält. Er giesst etwas Altöl über seine malträtierten Füsse und reibt es auf Zehen, Fusssohlen und Fersen. «Es brennt schrecklich», sagt er, «aber anders weiss ich mir nicht zu helfen.»
Der alte Mann ist an Tungiasis erkrankt, einer Tropenkrankheit, die durch einen auf Dauer in die Haut penetrierten Floh verursacht wird. Die Menschen in Ostafrika nennen Krankheit und Parasit «jiggers», nach dem englischen «chigoe flea», dem Wort, mit dem man in der Karibik seit Jahrhunderten den winzigen Quälgeist bezeichnet.
Die selbst in Fachkreisen weitgehend unbekannte und bisher nur wenig erforschte Tropenkrankheit hat in den letzten Jahrzehnten in Ostafrika epidemische Ausmasse angenommen. «Allein in Kenya rechnen wir mit mehreren Millionen Erkrankungen pro Jahr», sagt Lynne Elson, eine britische Expertin für öffentliche Gesundheit in den Tropen. In der Nähe von Mombasa unterstützt sie eine kleine Nichtregierungsorganisation, die sich dem Kampf gegen die Tungiasis verschrieben hat. «Wir haben im Distrikt von Malindi systematisch alle Grundschulkinder untersucht. Durchschnittlich jedes fünfte Kind war an Tungiasis erkrankt. In einigen Schulen waren es 80 Prozent.»
Eine in aller Eile vor den Parlamentswahlen durchgeführte Untersuchung des ugandischen Gesundheitsministeriums lässt vermuten, dass allein im Südosten des Landes bis zu 100 000 Menschen erkrankt sind. Associated Press spricht von 20 000 Neuerkrankungen und 20 Todesfällen innerhalb von zwei Monaten. Fragt man die Mütter im unterentwickelten Hinterland von Uganda, Kenya oder Tansania nach dem wichtigsten Gesundheitsproblem ihrer Kinder, hört man häufig die Antwort: die Tungiasis.
Da jedes Fussaufsetzen schmerzhaft ist, laufen Kinder mit Tungiasis nicht mehr herum und drücken sich vor dem langen Schulweg. Mütter können ihren Haushaltspflichten nicht nachkommen, und Väter sind bei der Arbeit auf dem Feld behindert. Wie eine Untersuchung einer kenyanisch-deutschen Forschergruppe zeigte, ist die Tungiasis im ländlichen Ostafrika die häufigste Ursache einer Mobilitätseinschränkung.
Die Wissenschafter konnten auch zeigen, dass der tief im Gewebe eingebettete Sandfloh über eine winzige Öffnung in der Haut mit der Aussenwelt verbunden ist. Mit dieser Art von «Periskop» nimmt der Parasit Sauerstoff auf und scheidet Stoffwechselprodukte aus; auch seine Eier gelangen über diesen Weg nach aussen.
Die Floheier sind klebrig und bleiben an der Haut in der Umgebung des «Periskops» haften. Irgendwann fallen sie auf den Boden. Sind die Verhältnisse günstig – ein trockener, staubiger oder lockerer Boden –, entwickelt sich über ein Larven- und Puppenstadium innerhalb von drei Wochen die nächste Generation erwachsener Parasiten.
Bei der Wahl der Wirte sind die weiblichen Sandflöhe nicht zimperlich. Sie bohren sich in die schwielige Haut an den Füssen afrikanischer Kinder genauso schnell ein wie an der Fusssohle von Hunden, Katzen oder Ratten oder am Hufansatz von Schweinen, Ziegen oder Schafen. Die Tungiasis ist also eine klassische Zoonose, bei der eine Vielzahl von Tieren genauso leidet wie der Mensch.
Geringes Interesse
«Mit Ausnahme der Militärärzte der Kolonialzeit hat sich bis vor wenigen Jahren nie jemand wirklich für die Sandflohkrankheit interessiert», sagt Lynne Elson von der Wajimida-Jigger-Selbsthilfeorganisation. Die Menschen im Hinterland betrachten die Tungiasis als naturgegebene Plage, gegen die man nichts unternehmen kann. Das öffentliche Gesundheitswesen ist schon mit der Bekämpfung anderer Tropenseuchen überfordert, und die Wissenschaft hat sich lieber anderen Krankheiten zugewandt, bei denen rasch wissenschaftliche Lorbeeren winken.
Auch bei der afrikanischen Gesundheitsorganisation Afro, die für die Gesundheit der Einwohner des Kontinents Sorge tragen soll, ist das Ausmass der Seuche unbekannt. Und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Tungiasis erst nach jahrelangem Drängen von Experten auf die Liste der sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten gesetzt, einer Gruppe von Erkrankungen, für die dringend Forschungsbedarf besteht.
Warum die Tungiasis in den betroffenen Ländern negiert wird, liegt auf der Hand. Die Patienten sind – selbst für afrikanische Verhältnisse – extrem arm und leben am Rand des Existenzminimums. Ihre Hütten stehen meist weitab von jeder medizinischen Infrastruktur. Selbst wenn eine Gesundheitsstation oder ein Spital in der Nähe wären, könnten sie die medizinische Hilfe aufgrund ihrer Mobilitätseinschränkung nicht erreichen. So tauchen Patienten mit Tungiasis in keiner Statistik auf, die regelmässig von peripheren Einrichtungen an das Gesundheitsministerium geschickt werden. Dort geht man dann «nach Aktenlage» davon aus, dass die Sandflohkrankheit – wenn überhaupt – nur ein marginales Gesundheitsproblem sei.
Die Dorfgesundheitshelferin Betty Nanyonjo, eine resolute Mutter von drei Kindern, die sich seit vielen Jahren ehrenamtlich um die Gesundheit der Einwohner von Budumbulu – das Dorf liegt wenige Kilometer vom erwähnten Bukteyune entfernt – kümmert, ist verzweifelt. Sie steht auf dem Hof der Familie Bitu, vor ihr sitzen vier Knaben und drei Mädchen. Die Kinder strecken ihre malträtierten Füsse von sich und schauen verschämt zur Seite.
Erbsengrosse Erhebungen
An jedem Zeh haben sich mehrere Sandflöhe eingegraben, an den Fusssohlen mögen es ein Dutzend sein. Dort, wo die Zehen in die Fusssohlen übergehen, ist die Haut schwarz verfärbt und rissig. Bei genauerem Hinsehen treten erbsengrosse, runde, gelblich schimmernde Erhebungen aus der Hornhaut hervor. Die Zehen sind angeschwollen, die Fussnägel grotesk verformt oder fehlen komplett. Bei einem Kind fehlen die Kuppen von zwei Zehen. Sie wurden mit einer Rasierklinge abgeschnitten. Ein verzweifelter Versuch, die Parasiten mit Brachialgewalt zu entfernen.
Die Eltern der Kinder sind an Aids gestorben, die Grosseltern haben die Waisen in ihr Haus aufgenommen. Dieses besteht nur aus zwei Räumen mit einem Fussboden aus festgestampfter Erde. Die Kinder sind sauber gekleidet, aber die Hosen und Röcke sind voller Löcher. Die Grossmutter und die Mädchen nächtigen in einem Raum, der Grossvater und die Buben in dem anderen. Betten gibt es nicht. Die Erwachsenen legen sich auf einen Holzrost, die Kinder schlafen auf einem zerrissenen Moskitonetz direkt auf dem Fussboden. Während die Dorfgesundheitshelferin die Kinder untersucht, zerreibt die Grossmutter zwei Hände voll Hirse mit einem Steinmörser. Hier ist offensichtlich Schmalhans Küchenmeister.
Ratten verstärken das Problem
«Die Familien mit Tungiasis ähneln sich», sagt Nanyonjo «Sie haben meist viele Kinder, die Lebensverhältnisse sind armselig, es gibt weder Sitzgelegenheit noch Betten, der Fussboden besteht aus Erde, es liegt viel Abfall herum, und Ratten huschen nachts rein und raus.» Über infizierte Ratten könnten die Parasiten in das Innere eines Hauses gelangen und dort den Vermehrungszyklus in Gang setzen.
Das will die Insektenforscherin Ulrike Fillinger vom Institut Icipe auf der kenyanischen Seite des Victoriasees überprüfen. In den Dörfern um Jinja kartiert sie jedes Haus, misst Temperatur und Feuchtigkeit, notiert die Beschaffenheit des Fussbodens und skizziert, wo genau die Füsse der Bewohner tagsüber oder nachts mit dem Boden in Berührung kommen. Danach kehrt sie Staub vom Fussboden, sammelt den Dreck aus Rissen und Spalten und kratzt die oberste Schicht mit einer Maurerkelle ab.
Mit einem von ihr entwickelten Verfahren werden die Proben auf Entwicklungsstadien von Tunga penetrans untersucht. «Ich kann mir gut vorstellen», sagt die Entomologin, «dass, wenn Eier von der Haut eines Patienten in einem Raum ohne soliden Fussboden auf die Erde fallen, sich die nächsten Flohstadien genau dort entwickeln.»
Eine Vermehrung der Parasiten im Wohn- und Schlafbereich würde erklären, warum im ländlichen Uganda die Tungiasis häufig das ganze Jahr über auftritt. Im Haus sind die winzigen Eier, Larven und Puppen vor den wasserfallartigen Tropenregen geschützt, die Uganda von März bis Juli und von September bis November fast täglich heimsuchen und alles, was auf dem Erdboden kreucht und fleucht, wie mit einem Hochdruckreiniger wegspülen.
Bis vor kurzem gab es keine wirksame medikamentöse Therapie, um einmal in die Haut eingedrungene Sandflöhe abzutöten. Deshalb werden in Uganda nach wie vor «Hausmittel» wie gebrauchtes Motoröl oder Pflanzenschutzmittel eingesetzt. Ähnlich schlimm sind die «chirurgischen» Methoden, mit denen die Mütter versuchen, die nahezu komplett von Haut ummantelten Parasiten aus den Füssen ihrer Kinder «herauszuoperieren».
Dafür werden alle Arten spitzer Gegenstände genutzt, wie Dornen, angespitzte Hölzchen oder Nähnadeln. Besonders beliebt sind Sicherheitsnadeln, weil die «Operateurin» damit besser hantieren kann. Da Sicherheitsnadeln im ländlichen Afrika ein Wertgegenstand sind, den es nicht in jeder Familie gibt, werden sie – natürlich ohne irgendwelche Desinfektion – von Familie zu Familie weitergereicht.
Experten fürchten seit langem, dass bei dieser schmerzhaften Operation auch Krankheitskeime über die blutverschmierten Instrumente von einem Kind zum anderen übertragen werden. «Es ist gut möglich», sagt George Mukone vom Gesundheitsministerium in Kampala, «dass die traditionelle Behandlung der Tungiasis die hohe Rate an Infektionen mit Hepatitis-B-Viren in Uganda erklärt.» Selbst bei Jugendlichen seien fast zehn Prozent Träger dieses Erregers.
Ein Silberstreif am Horizont für die Patienten ist die Entdeckung einer ebenso wirksamen wie ungefährlichen Therapie durch die erwähnte deutsch-kenyanische Forschergruppe. Die Wissenschafter haben systematisch nach einer Achillesferse des Parasiten gesucht und das durch die Haut ragende, mikroskopisch kleine «Periskop» als Ansatzpunkt entdeckt.
Silikonöl hilft rasch
Wird die Haut mit einem bestimmten Silikonöl (Dimeticon), das in winzige Öffnungen eindringt, beträufelt, verstopft das Öl das «Periskop». Der Parasit kann dann weder atmen noch feste oder flüssige Exkremente ausscheiden und stirbt innert 48 Stunden. Fresszellen beseitigen die Reste des Parasitenkörpers, und die von den Immunzellen nicht abbaubare Chitinhülle des Insekts wird wie jeder andere Fremdkörper innerhalb von einigen Wochen durch nachwachsende Hornhaut eliminiert.
«Bei einem leichten Befall reichen einige wenige Tropfen Dimeticon aus, um das ‹Periskop› des Parasiten zu blockieren», sagt Marlene Thielecke, angehende Ärztin an der Charité in Berlin, die das neue Therapieverfahren im Rahmen ihrer Dissertation auf Herz und Nieren überprüft hat.
In einem feierlichen Akt hat die Regierung von Uganda Ende August beschlossen, der Tungiasis landesweit den «Krieg zu erklären». Die rasche Behandlung aller Tungiasis-Patienten mit Dimeticon soll eine der Säulen des Bekämpfungsprogramms sein. Allerdings wird das Projekt erst einmal auf den Südosten von Uganda begrenzt. Dabei handelt es sich um offensichtliches politisches Kalkül, denn aus dieser Region kommen hochrangige Politiker und Beamte der Regierungsparteien. Und da im Februar Neuwahlen anstehen, will man sich auch der Stimmen jener Menschen versichern, die an der Tungiasis leiden oder von ihr bedroht sind. Mit ihren verstümmelten Füssen kämen sie ja nicht bis ins Wahllokal.
Hermann Feldmeier ist Arzt für Mikrobiologie, Infektionsepidemiologie und Tropenmedizin. Er lehrt an der Charité in Berlin und leitet die im Text erwähnte Forschergruppe.